Die Kapverden Teil 02, eine Welt von Europa ausgebeutet und vergessen
Die Kapverden Teil 02, eine Welt von Europa ausgebeutet und vergessen

Die Kapverden Teil 02, eine Welt von Europa ausgebeutet und vergessen

Damit eine Gesellschaft funktioniert, braucht es vor allem harmonische soziale Strukturen, in denen Diskriminierung, Rassismus oder gar die Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen nicht existieren. Ich weiß, dass das angesichts der Probleme, die unser Europa in diesem Bereich hat, seltsam, ja sogar utopisch klingen mag, aber auf den Kapverden kann man sehen, dass es möglich ist.

Die kapverdische Bevölkerung besteht aus vielen verschiedenen Ethnien, die jedoch völlig gleichberechtigt und harmonisch miteinander leben. Das Lebensmotto lautet „no stress“. Die Geschichte des Landes hat die sozialen Strukturen stark geprägt. Die portugiesische Kolonialregierung unternahm große Anstrengungen, um die Entstehung eines „Mischvolkes“ zu verhindern, hatte damit jedoch keinen Erfolg. Die Bewohner des Archipels sind das, was man als Kreolen bezeichnet – ein Begriff, der genau hier entstanden ist und ursprünglich mit der portugiesischen Kolonialmacht verknüpft war. Diese Bezeichnung wurde jedoch kulturell und sprachlich in anderen Kolonialgebieten der Welt übernommen und führte zur Entstehung zahlreicher Sprachen und kultureller Besonderheiten, die heute einfach unter dem Sammelbegriff „Kreolen“ zusammengefasst werden.

Letztlich sind die heutigen Bürger der Kapverden Nachkommen europäischer Einwanderer, aber auch von Sklaven und anderen Nationalitäten. Beobachtet man die Einwohner, fällt auf, dass sie sich trotz einer grundsätzlich dunkleren Hautfarbe als Europäer sehr voneinander unterscheiden. Amüsant ist, dass sich die Kapverdier untereinander mit Begriffen beschreiben, die sich auf die Farbe von Kaffee beziehen – einem für das Land extrem wichtigen Exportprodukt. So kennt man den „schwarzen Kaffee“ für sehr dunkelhäutige Personen, den „Kaffee mit Milch“ für Personen mit hellerer Haut und den „Café Mousseux“ für alle, die hellblondes oder krauses Haar haben, aber dennoch nicht weiß sind. Das ist überhaupt nicht rassistisch, sondern entspricht dem normalen Umgang der Menschen miteinander. Es ähnelt in etwa der Art, wie wir Europäer Haarfarben verwenden, um Menschen zu beschreiben, wenn wir ihren Namen nicht kennen.

Generell kann man ohne Übertreibung sagen, dass die Beziehungen zwischen den Menschen absolut entspannt, aber respektvoll sind, frei von Vorurteilen oder rassistischen Tendenzen. Sie alle identifizieren sich mit ihrer Nation und haben über die Jahre gelernt, sie zu verteidigen. Die Kapverdier verdanken dies dem Revolutionär und antikolonialistischen Führer Amílcar Cabral (1924-1973). Er trug maßgeblich zur Freiheit der Inseln bei und wird noch heute mit einem Nationalfeiertag geehrt. In der Hauptstadt Praia auf der Insel Santiago gibt es ein kleines Museum, und eine Statue steht vor dem Flughafen auf der Insel Sal, der seinen Namen trägt.

Die portugiesische Kolonialmacht wollte die Entwicklung einer unabhängigen kreolischen Kultur verhindern – natürlich durch Verbote und Gesetze –, doch ausgerechnet die herrschende Klasse der Großgrundbesitzer sowie lokale Staatsorgane und Priester verhinderten dies. Die Gründe dafür waren sehr menschlich, denn viele Männer aus diesen Sektoren, einschließlich hochrangiger Geistlicher, lebten mit weiblichen Sklaven zusammen. Aus diesen Familienstrukturen heraus entwickelte sich die kreolische Kultur, vor allem mit Unterstützung der Jesuiten, die sich nicht nur ideologisch, sondern auch sehr konkret für die Gleichheit aller Menschen einsetzten. Sie taten dies in ihren Schulen, die sowohl freien Männern als auch Sklaven, Weißen als auch Menschen mit dunkler Hautfarbe offenstanden. Sklaven durften sogar an der Messe teilnehmen, was aus Sicht der Kirche skandalös war. Letztlich konnten weder die portugiesische Krone noch die Kirche dies verhindern. Diese Entwicklung ermöglichte es dem Land, in den schwierigsten Momenten durch ein starkes Solidaritätsgefühl vereint zu bleiben und sich gegenseitig zu helfen, unabhängig von Hautfarbe oder Aussehen des Mitbürgers.

Ein weiteres Ergebnis dieser sich im Laufe der Zeit entwickelten sozialen Struktur ist ein gelebtes Familienbild, das man fast als einzigartig bezeichnen kann. Seit Jahrhunderten pflegen Frauen und Männer Beziehungen mit mehreren Partnern, mit denen sie jeweils auch Kinder haben. Die Kinder leben im Haus der Mutter, die den Kern der Familie bildet. Der oder die Väter ihrer Kinder besuchen sie regelmäßig, bringen auch Geld und Lebensmittel mit und bleiben für eine oder mehrere Nächte bei der Frau. Man nennt das eine „Besuchsbeziehung“. Diese Form des Familienlebens ist auf den Inseln sehr respektiert und verbreitet. Es hat nichts mit Prostitution zu tun. So können mehrere Kinder von unterschiedlichen Vätern im Haus einer Frau leben, ohne dass es zu Konflikten oder Eifersucht kommt.

Neben diesem Familienkonzept gibt es auch das Zusammenleben von Mann und Frau unter einem Dach, meist jedoch ohne Trauschein. Nach drei Jahren des Zusammenlebens wird diese Form der Familie automatisch mit der Ehe gleichgesetzt. Doch die Ehe, wie wir sie kennen, existiert ebenfalls, auch wenn sie relativ selten ist. Generell zwingen die Armut und die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen viele Menschen, relativ lange bei ihren Eltern zu leben, da dies viele Vorteile bietet und den täglichen Lebensunterhalt erleichtert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man auf den Kapverden auf eine äußerst offene und tolerante Gesellschaft trifft, die sich deutlich von den üblichen afrikanischen Gepflogenheiten abhebt. Während in fast allen afrikanischen Ländern die LGTBI-Community in einer Art kriminalisierten Grauzone leben muss, sieht es auf den Kapverden ganz anders aus. In Mindelo konnte sich eine eigene, starke Community bilden, die auch ihren Karneval so feiern kann, wie sie möchte. Derzeit läuft ein Prozess, um allen Mitgliedern der Community die Eheschließung zu ermöglichen. Doch da die klassische Ehe, wie oben beschrieben, auf den Kapverden nicht so verbreitet ist, wird es wohl noch dauern, bis dieses Lebensmodell auch für die LGTBI-Community rechtlich umgesetzt werden kann.

Was die Frauenrechte betrifft, so gelten europäische Standards. Die Kapverden werden laut dem „African Child Policy Forum“ (ACPF) von 2020 als das „mädchenfreundlichste Land“ Afrikas angesehen. Die Beschneidung ist verboten, und Abtreibungen sind legal, was für Afrika außergewöhnlich ist.

Eine Volksheldin des Archipels ist die Sängerin Cesária Évora (1941-2011). Sie war eine weltweit bekannte Interpretin der Morna, eines äußerst populären Musikgenres, das wahrscheinlich auf der Insel Boavista entstand und mit dem portugiesischen Fado vergleichbar ist. Morna wird auf der Gitarre, dem Cavaquinho (einer kleinen viersaitigen Gitarre), der zehnsaitigen Gitarre und der Geige gespielt. Sie ist sehr melancholisch, und die Texte sind geprägt von Nostalgie und Heimweh (port. Saudade). „Sodade“ ist auch der bekannteste Titel von Cesária Évora und gilt fast als zweite Nationalhymne. Die Sängerin trug maßgeblich dazu bei, die LGTBI-Bewegung auf den Inseln zu unterstützen. Die Frauen verehren sie als jemanden, der sich entscheidend und erfolgreich für eine offene und nicht diskriminierende Gesellschaft eingesetzt hat, in der Frauenrechte und Gleichberechtigung im Mittelpunkt der Identität stehen. So konnten die letzten Überreste kolonialer Denkmuster überwunden werden, und eine Nation mit eigener Identität fand und nutzte ihre eigene Stärke für eine freie Sozialstruktur. Der Flughafen der Insel São Vicente trägt ihren Namen, und vor dem Eingang steht eine Statue von ihr.

Ich denke, wir Europäer haben noch viel von diesen Menschen zu lernen, ohne dass wir dabei auf Ideologien zurückgreifen müssen. Es reicht, einfach Mensch zu sein und sein Herz zu öffnen, um zu erkennen, was eine wirklich freie Gesellschaft ausmacht. Die alten Werte der Französischen Revolution sind heute aktueller denn je: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

 

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